Alltagsdiamanten

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Hier kommt der der erste Beitrag für die Blogreihe “Alltagsdiamanten”. Ich möchte anhand von eigenen kleinen Erlebnissen zeigen, warum man nicht unbedingt berühmt sein muss, um seine Biographie zu schreiben. Wenn wir genau hinschauen und in unserer Wahrnehmung offen bleiben, hält das Leben selbst im gewöhnlichen Alltag Schätze bereit, die es wert sind aufgeschrieben zu werden. Diese besonderen Situationen oder Begegnungen nenne ich  “Alltagsdiamanten”, weil sie aus dem Gewöhnlichen heraus leuchten und eine schlichte Weisheit in sich bergen können. Manchmal sind sie fast magisch und geben ein Stück mehr Vertrauen in die Welt. Ein anderes Mal erkennt man den Wert der Situation erst im Nachhinein.

 

Eine Weihnachtsgeschichte im Ruhrpott

Vergangenes Jahr, Mitte Dezember. Seit Wochen hing nasskaltes Wetter über Witten und die Budenbesitzer auf dem Weihnachtsmarkt verzeichneten eine mehr als schlechte Saison. Man verbrachte entweder den ganzen Tag drinnen oder buchte noch schnell einen Flug nach Neuseeland. Letzteres war die sonnenklare Vorstellung meines Sohnes, nachdem ich mit ihm das Fotoalbum unserer Reise ans andere Ende der Welt angeschaut hatte. Für unseren Geldbeutel reichte ein Ausflug zu den Großeltern nach Münster; dort gab es einen Feuerofen, der ein wenig Gemütlichkeit ins triste Grau bringen würde.

Nachdem die Kinder am Morgen soviel Spielzeug wie möglich in ihre Mini-Rucksäcke gepackt hatten, stiefelten wir los zum Bahnhof. Ein freundlicher Nieselregen begleitete uns. Am außen gelegenen Ticketschalter stellte sich mein Mann mit dem Jüngsten in die Schlange, während ich mit dem Fünfjährigen die Bahnhofshalle betrat. Eine kleine Halle, in deren Mitte vor Kurzem die restaurierte Dampflok Friedrich platziert wurde, gestiftet vom Verein der Wittener Eisenbahnfreunde. Links in der Ecke vor der Bäckerei saß Rolf, ebenfalls fest dem Bahnhof zugehörig. Sein Körper in dicke Wolldecken gehüllt und das Gesicht in den großzügigen grau-braunen Bart getaucht. Kleine wache Augen hielten den Blick auf irgendeinen Punkt am Ende der Bahnhofshalle gerichtet. Ich nahm meinen Großen bei der Hand und wir gingen hinüber zu Rolf: “Kann ich Ihnen ein Brötchen mitbringen?” Vielleicht hatte er Hunger und würde sich freuen. Ich wollte meinen Kindern natürlich aktive Großzügigkeit vorleben. Wir hatten doch so viel und ein Dach über dem Kopf. Uns ging es wirklich gut. Rolf bedankte sich und verneinte. Ich meinte ein klitzekleines Zittern in seiner Stimme zu hören. Wir verabschiedeten uns und schlenderten weiter durch die Bahnhofshalle. Da tippte jemand von hinten auf meine Schulter und ein leicht strenger Duft flog mir entgegen: “Darf ich Ihrem Sohn etwas schenken?” Rolf stand in seiner vollen Größe vor uns. Er schaute mir direkt in die Augen. Wenn er ihm jetzt Süßigkeiten schenken will, die er vielleicht schon angefasst hat. Ich blieb zwischen Rolf und meinem neugierig drein schauenden Kind stehen. Im selben Moment schämte ich mich für diesen ersten Gedanken. Mir fiel keine bessere Antwort ein: “Es kommt drauf an, was.” Rolf öffnete seine riesengroße Hand: Münzen, eine ganze Hand voll Münzen, Ein- und Zwei-Euro-Stücke. Es klimperten mir mindestens zwanzig Euro entgegen. “Nein, das können wir nicht annehmen.” Verwirrung. Das wollte ich auf keinen Fall. Am liebsten wäre ich schnell mit meinem Sohn weiter gegangen. Man muss dazu wissen, dass das Kind seit einiger Zeit ein unglaubliches Interesse an Geld entwickelt hatte, was ich mit meinen antikapitalistischen Vorstellungen sorgenvoll und etwas gezwungen begleitete. Lernziel: Teilen, schenken, anderen Menschen eine Freude machen, anstatt das Geld für sich selbst anzuhäufen.

Und nun das! Nein, das ging nicht! Was sollte der Kleine auch mit soviel Geld? Nein, nein, nein. Wieder sah Rolf mich mit seinem direkten, unverstellten Blick an: “Ich möchte dem Jungen das Geld schenken. Ich hab genug.” Er steckte seine andere Hand in die Tasche seines olivgrünen Mantels und klimperte dort mit ein paar weiteren Münzen. Die Augen meines Sohnes fingen an zu leuchten. Rolfs Augen fingen an zu leuchten. Und da begriff irgendetwas in mir; egal, was mein pädagogisches Hirn mir mitteilte, hier musste ich mich raushalten. Mein Kind hielt beide Hände auf und Rolf ließ die Münzen behutsam hineinrutschen. Es passten nicht alle hinein, so gab er mir das restliche Geld. Wir bedankten uns. Rolf zwinkerte meinem Sohn  zu und schlenderte zurück zu seinem Platz. Ich schaute ihm ungläubig hinterher und mein Mund schloss sich erst wieder, als mein Mann mit den Tickets um die Ecke kam.

Und dann geschah Folgendes: Während mein Erwachsenen-Gehirn darüber nachgrübelte, wie ich verhindern konnte, dass mein Sohn mit Oma in den nächsten Spielzeugladen rannte, entdeckte das Kind in der Münsteraner Innenstadt einen Bettler und warf ihm ein paar Münzen in den Pappbecher. Er fing an, ein Spiel daraus zu machen und Menschen zu finden, die ihre Hand aufhielten, einen Hut aufgestellt hatten, oder anderweitig um eine kleine Gabe baten. Jedem von ihnen gab er einen Teil von Rolfs Münzen. Und er hatte eine unglaubliche Freude daran. Es war die Freude von Rolf, etwas verschenken zu können, die wohl unmittelbar auf ihn übergesprungen war. In den Tagen danach überlegte sich mein Sohn, was er Rolf schenken könnte, wenn wir ihn auf der Rückfahrt wieder am Bahnhof treffen würden. Er malte Bilder, buk Weihnachtsplätzchen und wollte ihm einen Adventskalender und einen kleinen Weihnachtsbaum bringen, vielleicht auch einen Engel aus Porzellan; damit Rolf im Bahnhof auch Weihnachten feiern konnte.